Veröffentlichung 2012

Therapeutische Arbeiten mit einem einfachen Feedback-System

„Psychotherapie im Dialog“ 13, S.97–102, 2012

Zusammenfassung

Der Grad des Engagements von KlientInnen in ihrer Psychotherapie ist – unabhängig vom therapeutischen Verfahren – der beste Prädiktor für den Therapie-Erfolg. Dieses Engagement wiederum ist abhängig von der Güte der therapeutischen Beziehung aus Sicht der KlientInnen und davon inwieweit die Interventionen dem Erwartungs-Horizont der KlientInnen entsprechen. Kontinuierliches Feedback von ihnen und das Gespräch über dieses Feedback sind deshalb der „Königsweg“ zur wirksamen Gestaltung von Psychotherapie. Am Beispiel eines sehr einfachen Systems wird die Praxis Feedback-orientierter Psychotherapie illustriert und deren Hürden und Herausforderungen benannt.

Im Folgenden sollen die Motive beschrieben werden (1.), aus denen heraus ich dazu gekommen bin, von KlientInnen am Anfang und Ende jeder Sitzung Kurzbögen ausfüllen zu lassen und diese Werte in das therapeutische Gespräch zu integrieren (2). Nach Illustration dieses Vorgehens an zwei Beispielen (3.) sollen dann einige Aspekte der Praxis eines solchen Feedback-Systems behandelt werden (4). Da dies ein sehr persönlicher Weg war, soll die Darstellung sowohl meine persönlichen Erfahrungen als auch eine allgemeinere Perspektive umfassen.

1. Von der ‚TherapeutInnen-Zentrizität’ zur KlientInnen-Orientierung

Bei der Ausbildung in einem therapeutischen Verfahren habe ich Theorie, Beziehungsgestaltung, Interventionen und deren jeweilige Konkretisierung auf den Einzelfall erarbeitet, geübt und schließlich „geschmeidig“ anzuwenden gelernt. Aber trotz dem Sicher-Werden in dem Verfahren blieb mir immer eine Unsicherheit im therapeutischen Tun.

Zu meiner Irritation trugen auch Ergebnisse der Psychotherapie-Forschung bei, die mit den Aussagen der therapeutischen Verfahren nicht ohne weiteres kompatibel waren (zusammengefasst bei Bohart & Tallman 2010: 85 – 94), wie z.B.

  • zu den hohen Wirksamkeitsraten von Selbsthilfe-Aktivitäten
  • zu Placebo-Effekten: also Veränderungen auch dort, wo Mittel eingesetzt worden waren, die nicht als therapeutisch gesehen und beabsichtigt waren (Effektstärken von .44 im Vergleich zur non-treatment-Gruppe!)
  • zum ‚pretreatment change’: also die recht häufigen Veränderungen der KlientInnen in der von ihnen gewünschten Richtung nach der Anmeldung zur Psychotherapie, aber vor dem Erstgespräch (bei bis zu 60% der KlientInnen)
  • und zum ‚early change’ in Psychotherapien: also eine Veränderung in den ersten wenigen Sitzungen, ohne dass nach dem Verständnis der TherapeutInnen überhaupt die Behandlung begonnen hat oder wesentliche Elemente der Behandlung haben wirksam werden können.

 
Mehr noch als die kognitiven Diskrepanzen zwischen dem, was die Verfahren für hilfreich halten, und dem, was diese Daten zeigen, irritierte mich das stetige Gefühl, die Sicherheit im Verfahren nicht zu einer Sicherheit in der konkreten Therapie ausweiten und entwickeln zu können (und dies auch nicht durch das Lernen von weiteren Verfahren ändern zu können).

Dass diese Unsicherheit aber unumgehbar ist, wenn ich ‚TherapeutInnen-zentrisch’ denke, zeigt dieses häufig replizierte Ergebnis der Psychotherapie-Forschung: PsychotherapeutInnen sind sehr viel schlechter in der Lage, den Erfolg/Misserfolg der jeweiligen Psychotherapie vorher zu sagen als ihre KlientInnen (Bohart & Tallman 2010: 88f mit Nachweisen; Norcross 2010: 117 mit Nachweisen).

Größte Bedeutung für diese Vorhersage hat demnach, wie die KlientInnen die Qualität der therapeutischen Beziehung wahrnehmen. Aber auch ihre Bewertung der Behandlung im engeren Sinne ist ein Prädiktor des Therapie-Erfolgs. Ein Beispiel hierfür ist die sorgfältig kontrollierte multizentrische Studie zur Behandlung von Major Depression von Elkin et al. (The Treatment of Depression Collaborative Research Program), mit vier Behandlungs-Bedingungen (Antidepressiva + ‚Clinical Mangement’, Placebo + ‚Clinical Management’, interpersonelle Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie). Entsprach die Behandlungsart den Vorstellungen der PatientInnen über die Ursachen ihrer Depression und über die wirksame Heilmethode, so brachen sie deutlich seltener die Behandlung ab und zeigten sich deutlich engagierter im therapeutischen Prozess (Elkin et al. 1999) Fußnote 1 – nach Annahme der AutorInnen (und der Psychotherapie-Forschung generell s. z.B. Orlinsky et al. 2004: 324) die entscheidende Vorbedingung für bessere Behandlungs-Ergebnisse.

Das bedeutet: das therapeutische Angebot muss für den jeweiligen Klienten/die jeweilige Klientin und dessen/deren Bedürfnisse in der therapeutischen Beziehung und für seine/ihre Ursachen- und Veränderungstheorie passen.

Solange ich also Psychotherapie als die Anwendung von therapeutischen Verfahren durch den Therapeuten/die Therapeutin auf den Klienten/die Klientin sehe, bin ich notwendigerweise unsicher über deren Wirksamkeit in der jeweiligen Therapie. Erst wenn ich KlientInnen als Selbstveränderer sehe, mit denen ich meine Beziehungs- und Interventions-Angebote abstimme, und diese Abstimmung fortlaufend wiederhole, kann ich Sicherheit in der konkreten Therapie gewinnen (und damit zu einer erfolgversprechenden Therapie kommen).

Dieser Perspektiven-Wechsel von den PsychotherapeutInnen als ‚MacherInnen’ der Veränderung hin zu einem Selbstverständnis als ‚ExpertInnen in der Begleitung’ des Veränderungs-Prozesses von KlientInnen wird auch von der Psychotherapie-Forschung empfohlen; s. z.B.:

  • im Abschlussbericht der Task Force der American Psychological Association zu „Empirically Supported Therapy Relationships“: „Therapists need to be sensitive to the risk that their own estimate of the status of the relationship … can be at odds with the client’s … Thus it seems prudent to actively solicit from clients their perspective on various aspects of the alliance and to negotiate flexibly the goals of the treatment and even the content of therapy to secure their active collaboration and engagement.” (Horvath 2001: 369f)
  • oder die Aufzählung von Empfehlungen, die Norcross in der Zusammenschau der empirischen Ergebnisse zur therapeutischen Beziehung in der 2.Auflage von „The heart and soul of change“ (Duncan et al 2010) gibt: „ The practice imperative is to privilege the client’s theory and experience of change, not the therapist’s …“ „Request feedback on the therapy relationship. Psychotherapists are comparatively poor at gauging their client’s experiences of their empathy and alliance, although therapists frequently believe they are acurate …“ usw. (Norcross 2010: 117ff)

 
Ich brauche also eine fortlaufende Abstimmung darüber, ob die therapeutische Beziehung und die Interventionen in der Therapie hilfreich, stützend, anregend usw. für die KlientInnen sind – und ob diese für die jeweiligen KlientInnen stimmige Gestaltung auch zur gewünschten Veränderung führt.

2. Die Suche nach geeigneten Instrumenten

Aber wie diese Praxis organisieren? Bei meiner Suche stieß ich im Jahr 2002 auf das Buch „The Heroic Client“ von Barry Duncan & Scott Miller, das bereits im Titel dem klassischen Bild des Psychotherapeuten/der Psychotherapeutin als ‚Macher’ der Therapie programmatisch die KlientInnen als ‚Helden’ gegenüberstellt (Duncan & Miller 2000). Als Instrument, um das jeweilige Befinden zu Beginn jeder Sitzung zu erheben, empfahlen die Autoren den OQ-45.2 (Lambert et al. 1996); um die Kooperation in der Sitzung aus Sicht der KlientInnen am Ende der Sitzung zu erfragen empfahlen sie die Session Rating Scale (SRS) 2.0 von Lynn Johnson (Johnson & Miller 2000). – Das Vorgehen, bei dem die Ergebnisse der beiden Bögen in das therapeutische Gespräch einbezogen und je nach Rückmeldung auch die Methodik geändert wird, hat ausgehend von diesem Buch die Bezeichnung „client-directed outcome-informed (CDOI) psychotherapy“ gefunden Fußnote 2 – so auch der Untertitel des Buches in der ersten Auflage.

Der OQ-45.2 ist ein Veränderungs-sensitiver 1-seitiger Fragebogen zum Befinden mit 45 Fragen, die 5-stufig beantwortet werden können. Die abgefragten Subskalen sind ‚Symptom-Belastung’, ‚Interpersonelle Beziehungen’ und ‚Soziale Rolle’. Bei guter Reliabilität und Validität werden insbesondere die Bereiche abgedeckt, die bei belasteten Personen am häufigsten betroffen sind – unabhängig von der jeweiligen Diagnose. – Der SRS 2.0 enthält 10 Items (zu empfundener Akzeptanz und Verständnis, zur Übereinstimmung bei Zielen und Aufgaben, Hoffnung usw.) mit jeweils 5 Stufen der Zustimmung.

Auch wenn mein Selbstbild bis zur ersten Gabe des SRS war, häufig und selbstverständlich nach Rückmeldung der KlientInnen zu fragen, war es für mich doch nun eine deutliche Veränderung, diese Rückmeldung quantifiziert (und so differenziert) zu bekommen und diese nach jeder Sitzung einzuholen. Ich vermute, dass ich vorher Feedback in den Fällen, in denen dies für mich unangenehm zu werden drohte, eher nur kursorisch eingeholt oder sogar ganz vermieden habe. – Das Verwenden des OQ-45.2 war aus anderen Gründen in meiner Arbeitsstruktur problematisch: Während akademische KlientInnen das Ausfüllen in 5 Minuten erledigten, konnte der Bogen KlientInnen tendentiell überfordern, denen solche Instrumente völlig fremd waren,; in günstigeren Fällen brauchten sie 15 – 20 Minuten für das Ausfüllen. Da ich ohne Assistenz arbeite und das Auswerten nochmals ca. 5 Minuten erfordert, wurde die verfügbare Zeit für das Gespräch (bevor sie dann wieder den SRS 2.0 bekamen) unzumutbar eng. Schon nach kurzer Zeit fing ich an zu selegieren, bei wem es „passen“ würde, den OQ-45 zu verwenden und bei wem nicht – eine untragbare Entwicklung, so dass ich schon daran dachte, dieses Vorgehen wieder aufzugeben.

In dieser Situation erfuhr ich in einem Workshop von Scott Miller davon, dass inzwischen auch seine Arbeitsgruppe – aus den gleichen Gründen – vom OQ-45.2 abgekommen war: Haim Omer hatte ihm vorgeschlagen, die drei Subskalen des OQ-45.2 durch eine jeweils 10 cm lange Linie zu ersetzen, auf der der Klient/die Klientin zwischen 0 und 10 markiert, wie es ihm/ihr in der letzten Woche ergangen ist. Ergänzt durch eine vierte Skala dazu, wie er/sie sich „insgesamt“ gefühlt hat, wird jeweils der der Markierung nächste ganze cm-Wert als Punkt gezählt. So wird einerseits ein Summenwert der Werte der vier Skalen gebildet (also maximal 40 Punkte), andererseits werden auch die einzelnen Skalen für sich betrachtet. Der Cut-off liegt bei 25 – ein Wert darunter signalisiert Therapie-Bedürftigkeit (Outcome Rating Scale (ORS); Miller & Duncan 2000). – Parallel dazu war auch der SRS 2.0 durch einen Bogen mit 4 Analog-Skalen ersetzt worden (Session Rating Scale (SRS) 3.0; Miller et al. 2002), auf dem der Klient/die Klientin auf jeweils 10 cm langen Linien ankreuzen kann, wie es ihm/ihr in den Bereichen ‚Therapeutische Beziehung’, ‚Ziele und Themen’, ‚Herangehensweise oder Methode’ und ‚Insgesamt’ in der Sitzung gegangen ist. Dabei findet er/sie den passenden Punkt zwischen zwei Polen: z.B. bei ‚Therapeutische Beziehung’: „Ich fühlte mich nicht gehört, verstanden und respektiert.“ und ‚Ich fühlte mich gehört, verstanden und respektiert.“ Cut-off für den Gesamtwert ist hier 36; ein Wert von 39 und 40 wird als ‚good’ gesehen, ein Wert von 37 und 38 als ‚fair’ und ein Wert von 36 oder weniger als ‚poor’. (Beide Skalen können in deutscher Sprache unter scottdmiller.com/node/13 heruntergeladen werden.)

Untersuchungen zu den Gütekriterien dieser beiden ‚ultra-kurzen’ Skalen ergaben:

  • ORS: hohe interne Konsistenz; Test-Retest-Reliabilität moderat (.66 bei der zweiten Testung) – allerdings sollte im Auge behalten werden, dass solche Maße niedrigere Reliabilitätswerte haben, die Veränderungs-sensitiv sind; Validität, gemessen am OQ-45.2, moderat (.59); (Miller et al. 2003).
  • SRS 3.0: hohe interne Konsistenz; Test-Retest-Reliabiltät moderat (.64), Validität , gemessen am Helping Alliance Questionnaire II, moderat (.48); (Duncan et al 2003).
    Damit ist die Güte von beiden Instrumenten ‚moderat’, aber hinreichend bei dem großen Vorteil der sehr guten Handhabbarkeit. Zur Verwendung von beiden Skalen s. Miller & Duncan (2004).

 
Zu Beginn jeder Sitzung füllt der Klient/die Klientin den ORS aus: mit etwas Routine ist dies eine Aufgabe von wenigen Sekunden. Das mit einem Blick quantifizierbare Ergebnis wird dann sowohl vom Gesamtwert als auch von den Subskalen-Werten mit den Inhalten, Anliegen usw. des Klienten/der KlientIn ‚verwoben’. Beginnend mit dem Erstgespräch ist dieser simple Bogen neben Stimme, Haltung, Mimik eine sehr deutliche Information darüber, wie belastet die Person ist, aber auch, wo es in ihrem Leben Stärken und Inseln der Unterstützung gibt usw. In den weiteren Sitzungen können dadurch Einbrüche sofort gesehen und ansprechbar werden; insb. aber kann als Leitthema verfolgt werden, inwieweit im Auf-und-Ab des Lebens die Psychotherapie hilfreich ist und zur Verbesserung führt.

Kurz vor Ende des Gesprächs kreuzt die Klientin/der Klient die Werte für die Sitzung auf dem SRS an und diese werden möglichst noch gleich besprochen. Sollte die Zeit hierfür nicht mehr reichen, schaue ich den Bogen in Gegenwart der KlientInnen noch kurz an; bei auffälligen Werten bitte ich darum, dass sie sich merken, woran es ihnen in der Sitzung gefehlt hat, und dass ich zu Beginn der nächsten Sitzung darauf zurückkommen möchte. Sollte auch dafür einmal die Zeit fehlen, ich erst nach Ende der Sitzung einen Blick darauf werfen können und sollten die Markierungen auf Gefährdungen der Zusammenarbeit verweisen, rufe ich die KlientInnen an oder melde mich per mail mit der Bitte um Erläuterung. Der Umgang mit den Ergebnissen soll immer wieder signalisieren: „Wir arbeiten zusammen und Ihre Rückmeldung ist wichtig für den Erfolg!“ Es ist aus meiner Sicht entscheidend, dass der SRS als eine Anregung zum lebendigen Gespräch genutzt wird und nicht zur Routine-Handlung verkommt.

3. Zwei Beispiele zum Umgang mit den Bögen

Am Beispiel einer Einzel- und einer Paartherapie soll die Arbeit mit ORS und SRS illustriert werden.

3.1. Die Einzeltherapie dieses 44-jährigen Mannes beginnt mit einem Paar-Gespräch auf Initiative seiner Frau. Er hat seit einem Jahr keine Erektionen mehr in der Sexualität mit ihr gehabt, seit 6 Wochen nun auch eine Freundin (bei der er Erektionen durch Viagra erreicht). Aus ihrer Sicht sei „Alles“ sein Problem, deshalb wolle sie hier nur ihre Meinung sagen, aber nicht an einer Therapie teilnehmen. Der ORS zeigt die hohe Belastetheit von beiden (sie 7, er 10).

ORS-Werte Fall 1

Der Mann berichtet: die urologische Untersuchung habe keine Hinweise auf organische Störungen ergeben. Fußnote 3 In der Sexualität mit seiner Frau fühle er sich unwohl: sie zeige nur 2- 3 mal im Jahr ihre Lust und sei dann aber völlig passiv. Er sei nur bereit zur Psychotherapie, wenn er sich darin überlegen könne, mit wem er zusammen sein wolle und wenn es seiner Frau und mir klar sei, dass er keine Erektionen garantieren könne, wenn er sich für seine Frau entscheide. Für die Entscheidungs-Frage (‚mit wem zusammen sein?’) vereinbaren wir ein weiteres Gespräch.

Seine Bewertung der ersten Sitzung im SRS liegt deutlich unter dem Cut-off von 36. (Die Bewertung der Frau spielt im Weiteren keine Rolle, da sie ja von vornherein entschieden ist, nicht an weiteren Gesprächen teilzunehmen.) Seine Erklärung: er fühlt sich von seiner Frau zum Gespräch ‚geschoben’; er hat ein mechanisches (= unpsychologisches) Verständnis seiner Erektion und zweifelt deshalb daran, dass Gespräche Sinn machen könnten für ihn; er sieht aber diese erste Sitzung als hinreichend gut an, um ein zweites Gespräch zu vereinbaren für ein Thema, das ihm auf den Nägeln brennt.

SRS-Werte Fall 1

Vor der zweiten Sitzung hat er sich bereits für das Fortsetzen der Ehe entschieden und möchte Unterstützung bei der Frage, ob denn diese Entscheidung auch lebbar ist. Er fühle sich mit seiner Frau im Bett nicht nur sehr unwohl, sondern habe auch gar kein Verlangen mehr auf sie. Damit gibt es einen Richtungswechsel von der Hintergrundsfrage „Wie soll ich durch Gespräche eine Erektion bekommen?“ zu „Kann jemand verstehen, dass ich keine Lust mehr auf sie habe?“ Diese Entwicklung hat sich bei ihm schon länger angekündigt, da er sich in Art und Frequenz der Sexualität ganz auf ihre Bedürfnisse eingestellt hat und bei dieser Anpassung das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse aufgegeben hat. – Das Besprechen der SRS-Werte am Ende der Sitzung erlaubt, jeweils heraus zu arbeiten, wofür er Unterstützung sucht und damit auch einen Bereich zu definieren, der dem Gespräch zugänglich ist. Die sich schnell steigernden ORS-Werte verweisen auf seine zunehmende Sicherheit beim Wahrnehmen seiner Bedürfnisse (und bei seiner Erektion) und beim Neu-Einjustieren, wie er seiner Frau gegenübertreten will. – Dieser Fall illustriert, wie der SRS dabei helfen kann, eine Kooperation in der Psychotherapie mit jemand zu erreichen, der zunächst nur ein somatisches Problem sieht, aufgrund des Kontaktes aber Interesse am Gespräch entwickelt.

3.2. Das Paar (beide 34 Jahre alt) kommt in die Paartherapie, weil es durch schwerste Konflikte inzwischen zermürbt ist und weil wegen dieser Eskalation die Frau auch nicht mehr arbeitsfähig ist. Das Paar ist seit 17 Monaten zusammen; sie hat ihren vorigen Wohnort verlassen und ist in die Wohnung des Mannes gezogen. Am jetzigen Ort hat sie keine Freunde und nicht die Kraft, eine Arbeit anzunehmen. Die periodischen Streits gehen jedes Mal bis zum Trennungs-Entschluss von ihr und dem Verlassen seiner Wohnung mit gepackten Koffern. Der ORS zeigt deutlich die extreme Belastetheit der Frau:

Seine Bewertung der ersten Sitzung liegt mit 34 unter dem Cut-off; ihre ist mit 26 eine klare Aussage dazu, wie überaus unzufrieden sie damit war:

ORS-Werte Fall 2

Beim Besprechen dieser Werte werden folgende Hintergründe klar: einerseits zeigt sich darin bei beiden eine Unzufriedenheit, die für Hochkonflikt-Paare in den ersten Sitzungen typisch ist: man hat selbst nicht genug sagen können, insbesondere die Aussagen des Anderen nicht hinreichend ‚richtig stellen’ können. Andererseits fühlt sich aber speziell die Frau sehr unwohl, da sie nach langjähriger Einzeltherapie die Erwartung hat, hier ihre Sicht und Gefühle ohne Begrenzung durch mich darstellen zu können und erlebt die Gesprächsführung durch mich als unangenehm. Dieser ‚Kulturwechsel’ von Langzeit-Einzeltherapie zu Paartherapie bei Hochkonflikt ist für mich gut nachvollziehbar; andererseits kann ich mir nicht vorstellen, beide einfach so lange reden zu lassen, wie es jeder möchte – und das kann sie wiederum nachvollziehen; zudem möchte sie auch nicht, dass ich ihrem Partner eine größere Ausführlichkeit gestatte. Das Gespräch anhand des SRS über ihre und seine Bedürfnisse und das, was hilfreich in der Sitzung ist, erlaubt immer wieder ein ‚Versöhnen’ damit, dass ich zwar zunächst unzureichend bleibe beim Annehmen von jedem Einzelnen, aber entlastend bei der Konflikt-Begrenzung. – Die Entwicklung der ORS-Werte zeigt, wie allmählich durch Bearbeiten der Konflikte und Erhöhen des Gelingenden die Abstürze bei Streits weniger tief werden bis die Frau wieder arbeitsfähig und dadurch auch weniger vulnerabel ist.

SRS-Werte Fall 2

Beide Fälle sollen nicht im Detail geschildert werden, sondern nur illustrieren, wie unterstützend diese sehr einfachen Skalen bei der Abstimmung des therapeutischen Vorgehens sein können in der Bearbeitung jeweils eines Themas (hier das Umsteuern von ‚Tip’-Erwartungen hin zu psychologischen Prozessen; dort das Umgewöhnen nach einer Einzel-Langzeittherapie auf einen ganz anderen Umgang in einer spannungsreichen Paartherapie). In jeder Therapie richtet sich aber am Ende jeder Sitzung das Interesse darauf, ob es Störungen der Kooperation bei der Beziehung oder beim Vorgehen gegeben hat, ob diese Störungen versprachlicht und dann wieder ausgeräumt werden können bzw. darauf, was sich die KlientInnen ‚Anderes’ wünschen. Fußnote 4

 

4. Praxis der Feedback-orientierten Psychotherapie

Zwei Aspekte einer kontinuierlichen Feedback-orientierten psychotherapeutischen Praxis möchte ich hervorheben.

5.1. Wie dieses Vorgehen bei KlientInnen einführen?

In den ersten Jahren erklärte ich nach der Begrüßung zunächst zum ORS „Ich möchte Sie bitten, diesen kurzen Bogen auszufüllen, um einen schnellen Überblick darüber zu bekommen, wie es Ihnen geht. Was immer Ihr Anliegen ist, hilft mir das, auch den Hintergrund im Blick zu haben, auf dem unser Gespräch stattfindet.“ Daraufhin ließ ich den Klienten/die Klientin erst noch mal allein, um nach der Rückkehr dann den Bogen aufzunehmen und das Gespräch zu beginnen. – Einige Minuten vor dem Ende des Gesprächs gab ich dann den SRS mit der Begründung „Es ist mir sehr wichtig, von Ihnen zu erfahren, wie Sie unser Gespräch erlebt haben. In der begrenzten Zeit einer Sitzung kann leicht mal etwas auch nicht so gelingen oder auch von mir unzureichend verstanden werden, dann könnten wir das noch kurz besprechen.“

Mit der Zeit wurde mir aber deutlich, das manche KlientInnen zu Beginn des Erstgesprächs davon überfordert sind, sich auf ein solches System einzustellen (auch wenn es sehr einfach ist): sie wollen Kontakt und ihr Problem darstellen; bei manchen werden unter dem Druck der Situation auch Ängste aktiviert, ob sie „so etwas“ überhaupt ausfüllen können. Deshalb stehen beide Bögen inzwischen auf unserer Website; Ratsuchende werden bei der Vereinbarung eines Erstgesprächs im Sekretariat bereits darauf hingewiesen, dass diese Bögen ihnen am Anfang und Ende der Sitzung gegeben werden. Zusätzlich steht inzwischen nun auch eine Begründung für die Feedback-orientierte Arbeit auf unserer Website (profamilia-heidelberg.de/pages/beratung/beratung/ehefamilienundlebensberatung/hintergruende/). Diese Möglichkeit für die KlientInnen, sich bereits zu Hause mit den Bögen vertraut zu machen, hat gerade bei KlientInnen ohne akademischen Hintergrund den möglichen Stress reduziert; manche bringen den heruntergeladenen ORS auch bereits ausgefüllt in Papierform mit zum Gespräch. Deshalb weise ich jetzt nur noch am Beginn des Gesprächs darauf hin, dass ich einige Minuten vor Ende des Gesprächs den SRS geben werde und dass mir ihr Erleben der Sitzung wichtig ist.

5.2. Mögliche eigene Hürden von PsychotherapeutInnen

Für manche KollgInnen ist es schwierig, den SRS bei ihren KlientInnen so einzuführen, dass diese sich zum offenen Ausfüllen und damit zur Mitarbeit in ihrer Therapie eingeladen fühlen. Von diesen KollegInnen wird häufig berichtet, dass ihre KlientInnen immer Werte im Bereich 39 – 40 ankreuzen. Die Gefahr ist dann groß, dass die Bögen nur noch formal gehandhabt werden und die Rückmeldung nur ‚ohne Blessuren’ überstanden werden soll. Für den durch die Bögen zusätzlich möglichen therapeutischen Erfolg ist es aber wichtig, dass die KlientInnen sich frei fühlen, ihre Perspektive und dabei auch die aus ihrer Sicht kritischen Aspekte mitzuteilen. Dies wird nur gelingen, wenn wir grundsätzlich verinnerlichen, dass wir mit unseren Einschätzungen der KlientInnen-Prozesse völlig falsch liegen können und dass auch unsere Sicht, wie gelungen verständnisvoll, eingestimmt, anregend usw. wir in der zurückliegenden Sitzung waren, von den KlientInnen nicht geteilt werden kann. Diese Offenheit für die Sicht der KlientInnen zu erreichen, kann schwierig sein und durch Begleitung durch einen in dieser Umorientierung erfahrenen Kollegen erleichtert werden.

Für mich selbst stellte sich etwas Anderes als Hürde heraus: das kontinuierliche Erheben von Befinden und Bedürfnissen der KlientInnen führte mich zunehmend in ein Enge-Gefühl, das ich aus den Vor-Feedback-Zeiten nicht kannte. Autobiographisch an dieser Stelle vulnerabel bewirkte das so viel genauere Wissen darum, was dieser Klient nun als empathisch empfand und was nicht oder was jene Klientin als nicht hilfreiche Methode sah, einen Verlust von Spielraum und Gelassenheit auf meiner Seite. Durch die Feedback-orientierte Arbeit war bei mir – in den Begriffen der Schematherapie – ein „Unterwerfungs-Schema“ aktiviert worden. Ich musste für einige Zeit aussetzen mit den Bögen, um dieser Rückmeldungs-Dichte in einer Art gewachsen zu sein, die auch mir guttat. Fußnote 5

Fazit:

  • Feedback-orientierte Psychotherapie ist kein neues Verfahren, sondern eine Einbettung des vertrauten Vorgehens in einen Rückmelde-Rahmen, der sich m.E. – mit Ausnahme von Psychoanalysen – mit allen Verfahren kombinieren lässt.
  • Dieses Vorgehen sollte nur von KollegInnen praktiziert werden, die die Idee teilen, dass Kooperation die Basis aller Therapie ist und dass die Engagiertheit der KlientInnen in ihrer Therapie bedeutsamer ist als alle Modelle oder Techniken.
  • Die Instrumente des Feedbacks sind allein dazu bestimmt, diesen Kooperations-prozess zu befördern, nicht aber um die Wirksamkeit gegenüber Krankenkassen etc. nachzuweisen. Wenn solche ganz anderen Zwecke damit verfolgt werden, verlieren sie nicht nur ihre ‚Unschuld’, sondern auch ihre Kraft. KlientInnen wie TherapeutInnen würden dann automatisch an die Auswirkungen der Werte auf die Finanzierung der Therapie, auf den Ruf der TherapeutInnen usw. denken und aus dieser Perspektive heraus ihr Verhalten steuern.
  • Die Bögen knüpfen an die ursprüngliche Motivation an, aus der heraus wir unseren Beruf ergriffen haben: wir wollten hilfreich sein. Um dies zu erreichen, mussten wir ein Verfahren erlernen. Feedback-orientierte Arbeit führt aus meiner Sicht weg von den unguten Rangeleien des „Welche Methode ist anderen Methoden überlegen?“ zwischen den Verfahren und hin zum Gespräch darüber, was bei dem konkreten Klienten/der konkreten KlientIn hilfreich ist.
  • Und dies Vorgehen erlaubt auch leichter, dass wir ‚einsehen’, wenn wir für einen konkreten Klienten/eine Klientin trotz allem Bemühen nicht hilfreich sind. Dann können wir uns um eine wohlwollende Überweisung bemühen (und bis diese erreicht ist, eine sichere Basis bilden).

 
Mittlerweile ist in Tausenden von Untersuchungen belegt, dass Psychotherapie wirksam ist. Es ist an der Zeit, jetzt auch offen mit der Binnen-Differenzierung dieser Wirksamkeit umzugehen: es gibt Verschlechterungen, ziemlich viele KlientInnen bleiben auf dem gleichen Level wie vor der Psychotherapie und es gibt beeindruckende Verbesserungen. Für die beiden ersten Ergebnis-Gruppen bietet ein Feedback-orientiertes Vorgehen eine gute und unaufwendige Hilfe, für die letzte eine Intensivierung der Verbesserung (s. Lambert 2010: 243ff). Fußnote 6

Fußnoten

(1) Es sei angemerkt, dass von den 177 PatientInnen 99 ein klares Profil ihrer Ursachen-/Behandlungs-Vorstellungen hatten, also nicht alle. Von diesen 99 sahen nur 24 körperliche Prozesse als Ursache und Medikation als gewünschte Behandlung ihrer Depression.
(2) Von Scott Miller wird seit 2010 stattdessen der Begriff „Feedback-informed treatment“ (FIT) verwendet. Aus seiner Sicht hat sich über die Jahre immer stärker die Vorstellung entwickelt, CDOI sei ein eigenes Verfahren, das in Konkurrenz zu den bisherigen Verfahren stehe; genau diese Idee soll ja aber gerade nicht mit der Feedback-orientierten Arbeit verbunden sein (persönliche Mitteilung, 17.10.2011).
(3) Wie so oft bei erektiler Dysfunktion hat den Mann die Tatsache, dass er beim Masturbieren keine Erektionsprobleme hat, nicht davon abgehalten, beim Urologen nach ‚der’ Ursache der Erektionsprobleme im körperlichen Bereich forschen zu lassen.
(4) Aus Platzgründen soll hier auf die nähere Darstellung der Ergebnisse der Psychotherapie-Forschung zu diesem (s. z.B. Anker et al. 2009) wie auch zu anderen Feedback-Systemen verzichtet werden. Lambert (2010) kommt in einer aktuellen Übersicht über verschiedene Feedback-Systeme in unterschiedlichen Settings zu dem Ergebnis, dass die Wirksamkeits-Unterschiede zwischen der Feedback-Bedingung und dem üblichen Vorgehen ohne Feedback bei .34 bis .92 liegen und schlussfolgert: „Such large effect sizes are unusual when one considers the most generous estimates of the effect size of the difference between empirically supported and comparison treatments is .20 or less.“ (Lambert 2010: 249).
(5) Aus Platzgründen soll hier auch nicht dargestellt werden, welche Aspekte berücksichtigt werden müssen, wenn Feedback-Systeme in Organisationen eingeführt werden: welche Fallstricke, aber auch welche Gewinne für die Organisation und die beteiligten PsychotherapeutInnen in dieser Umgestaltung liegen können..(Ein illustratives Beispiel für die vielfältigen Auswirkungen der Umgestaltung der Mental Health-Organisationen eines ganzen Staates stellen Bohanske & Franczak (2010) dar.)
(6) Managed Care und Employee-Assistance Programme bewirken mit ihren Regelungen, dass Psychotherapie in den USA im Durchschnitt 5 Sitzungen dauert – aus unserer Sicht also kurze Kurztherapien. Aus meiner Erfahrung heraus sind aber auch bei deutlich längeren Therapien Feedback-Systeme hilfreich: allerdings ist die Gefahr insbesondere bei den Stundenbögen hier größer, dass das Ausfüllen zur Routine wird und dass das Gespräch über die KlientInnen-Sicht der Sitzungen versandet. TherapeutInnen sind deshalb hier stärker gefordert, ‚wach’ zu bleiben und den Feedback-Prozess durch Variationen vital zu halten.

Literatur

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